Novalis, Die unendliche
Flüssigkeit - Auszug aus: Die Lehrlinge zu Sais
(1798...99)
"Der denkende Mensch kehrt zur
ursprünglichen Funktion seines Daseins, zur
schaffenden Betrachtung, zu jenem Punkte zurück,
wo Hervorbringen und Wissen in der wundervollsten
Wechselverbindung standen, zu jenem
schöpferischen Moment des eigentlichen Genusses,
des innern Selbstempfängnisses. Wenn er nun ganz
in die Beschauung dieser Urerscheinung
versinkt, so entfaltet sich vor ihm in neu
entstehenden Zeiten und Räumen, wie ein
unermeßliches Schauspiel, die
Erzeugungsgeschichte der Natur, und jeder feste
Punkt, der sich in der unendlichen Flüssigkeit
ansetzt, wird ihm eine neue Offenbarung des
Genius der Liebe, ein neues Band des Du und des
Ich. Die sorgfältige Beschreibung dieser innern
Weltgeschichte ist die wahre Theorie der Natur;
durch den Zusammenhang seiner Gedankenwelt in
sich, und ihre Harmonie mit dem Universum, bildet
sich von selbst ein Gedankensystem zur getreuen
Abbildung und Formel des Universums. Aber die
Kunst des ruhigen Beschauens, der schöpferischen
Weltbetrachtung ist schwer, unaufhörliches
ernstes Nachdenken und strenge Nüchternheit
fordert die Ausführung, und die Belohnung wird
kein Beifall der mühescheuenden Zeitgenossen,
sondern nur eine Freude des Wissens und Wachens,
eine innigere Berührung des Universums
sein."
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