Richard P. Feynman
Die
Beziehung zwischen Mathematik und Physik
Auszug aus: Richard P. Feynman,
Vom Wesen physikalischer Gesetze, Piper 1993, Seite 60-76
[Hervorhebungen durch Hintergrund- oder Textfarbe nicht im Original] [60]
... An diesem Punkt nun erhebt sich eine interessante Frage. Kann diese
Deduktion an einer bestimmten Stelle ansetzen? Gibt es in der Natur
eine bestimmte Struktur oder Ordnung, aus der wir entnehmen können, daß
eine Reihe von Aussagen fundamentaler ist als die andere? Wir haben es
hier mit zwei verschiedenen Mathematikauffassungen zu tun, die ich im
Rahmen unserer Vorlesungsreihe als die babylonische und die griechische
Tradition bezeichnen will. In Babylon wurden die Mathematikstudenten
mit einer Vielzahl von Beispielen traktiert, bis sie selber imstande
waren, die allgemeine Regel abzuleiten. Sie wußten natürlich auch eine
ganze Menge über die Geometrie, über die Eigenschaften von Kreisen,
kannten den Lehrsatz des Pythagoras, Formeln für Flächen von Kuben
[61]
und Dreiecken, außerdem hatten sie eine Reihe von Argumenten parat, um
von einem Schluß zu anderen zu gelangen. Es existierten
Zahlentabellen, so daß sie komplizierte Gleichungen lösen konnten.
Alles war für die Berechnungen bestens vorbereitet. Euklid nun
entdeckte einen Weg, alle geometrischen Theoreme von einem Satz
besonders einfacher Axiome abzuleiten. Die babylonische Haltung - oder
das, was ich babylonische Mathematik nenne - gibt sich damit zufrieden,
all die verschiedenen Theoreme und viele der zwischen ihnen bestehenden
Verbindungen zu kennen; sie hat sich aber nie wirklich klargemacht, daß
alles von einer Handvoll Axiomen kommen könnte. Die modernste
Mathematik konzentriert sich auf Axiome und Beweise innerhalb eines
fest umrissenen Rahmens von Konventionen darüber, was als Axiom gelten
darf und was nicht. Die moderne Geometrie greift zum Beispiel etwas wie
die Euklidschen Axiome in modifizierter Form auf und leitet dann das
System daraus ab. Dabei käme einem Theorem wie dem Pythagoräischen
Lehrsatz, der besagt, daß in einem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat
der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der beiden Katheten ist,
nicht der Stellenwert eines Axioms zu. Unter einem anderen, dem
Descartesschen Gesichtspunkt dagegen, gilt das Pythagoräische Theorem
als Axiom.
Darum müssen wir als erstes einmal
akzeptieren, daß
man selbst in der Mathematik von verschiedenen Ausgangspunkten ausgehen
kann. Wenn all diese verschiedenen Theoreme durch logische Schlüsse
miteinander verknüpft sind, gibt es keinen triftigen Grund zu sagen:
"Diese hier sind fundamentaler als die anderen." Man kann, je nachdem,
was man wissen will, das Schlußfolgern genauso gut von der anderen
Richtung her angehen. Es ist wie bei einer Brücke, die aus vielen
Gliedern besteht und darüber hinaus noch verbunden ist; fallen einige
Stücke aus, kann sie auf andere Weise wieder zusammengefügt werden. So
hat es sich die moderne Mathematik zur Regel gemacht, von bestimmten,
gewissermaßen in Übereinkunft zu Axiomen erhobenen Ideen auszugehen und
[62]
darauf ihr Gebäude aufzubauen. Die von mir als babylonisch bezeichnete
Richtung dagegen sagt sich: "Zufällig weiß ich dies und das und
vielleicht noch jenes, und auf dieser Grundlage werde ich mir alles
übrige erarbeiten. Vielleicht habe ich morgen schon das eine oder
andere vergessen, dafür werde ich mich an etwas anderes erinnern, und
so kann ich alles rekonstruieren. Dabei bin ich mir nie ganz sicher, wo
ich anfangen und wo ich eigentlich aufhören soll. Ich merke mir nur
eben soviel, daß ich, auch wenn das Gedächtnis nachläßt und einige
Glieder herausbrechen, das Ganze doch Tag für Tag wieder zusammensetzen
kann."
Die Methode, stets von den Axiomen
auszugehen, ist zur
Erarbeitung von Theoremen nicht besonders geeignet. Es ist nicht eben
praktisch, zur Lösung eines geometrischen Problems immer wieder auf die
Axiome zurückkommen zu sollen. Natürlich kann man, wenn man sich ein
paar Sachen in der Geometrie merkt, von da aus immer wieder
weiterkommen, aber der andere Weg ist viel tauglicher. Die Wahl der
besten Axiome ist nicht notwendig die wirksamste Art und Weise, einen
Bereich zu erforschen. In der Physik brauchen wir die babylonische
Methode und nicht die Euklidsche oder griechische. Warum, werde ich
Ihnen gleich erklären.
Der springende Punkt bei
der
Euklidschen Methode ist, an manchen Axiomen etwas besonders
Interessantes oder Wichtiges festzustellen. Im Fall der Schwerkraft zum
Beispiel hieße das fragen: Ist es wichtiger oder grundlegender, daß die
Kraft zur Sonne hin wirksam wird oder daß in gleichen Zeiträumen
gleiche Flächen überstrichen werden. Von einen Standpunkt aus ist die
Aussage über die Kraft besser. Zum Beispiel kann ich, wenn ich die Art
der Kräfte festgestellt habe, mich über ein System mit vielen Teilchen,
in dem die Umlaufbahnen keine Ellipsen mehr sind, informieren, weil ich
dank dem Schwerkraftgesetz von der gegenseitigen
Anziehungskraft
weiß. Da ich in diesem Fall nichts mit dem Theorem über die gleichen
Flächen anfangen kann, halte ich das Kraft-Gesetz für das bessere
Axiom. An-
[63] dererseits läßt sich auch
das Gesetz der
gleichen Flächen in einem System mit einer Vielzahl von Teilchen zu
einem Theorem verallgemeinern. Es ist reichlich kompliziert und nicht
so hübsch wie die ursprüngliche Aussage über die gleichen Flächen,
doch unleugbar ein Abkömmling von ihm. Nehmen wir ein System mit vielen
Körpern, etwa Jupiter, Saturn, die Sonne samt einer Menge Sterne, die
alle miteinander wechselwirken, und betrachten es aus der Ferne auf
eine Ebene projiziert (Abb. 12). Die Körper bewegen sich alle in
verschiedene Richtungen. Nehmen wir nun einen beliebigen Punkt und
berechnen, welche Fläche vom Radius dieses Punktes zu jedem der Körper
in einer bestimmten Zeit überstrichen wird. Dabei müssen wir die Massen
der einzelnen Körper berücksichtigen und beispielsweise die Fläche
eines doppelt so schweren Planeten doppelt zählen. Wir zählen also die
überstrichenen Flächen, indem wir sie hinsichtlich der zugehörigen
Massen gewichten, addieren sie und stellen fest, daß sich die
Gesamtsumme zeitlich nicht ändert. Diese Gesamtsumme wird als
Drehimpuls bezeichnet, und das Gesetz, das wir auf diese Weise entdeckt
haben, unter die Erhaltungssätze eingereiht, wobei Erhaltung des
Drehimpulses lediglich bedeutet, daß es sich nicht zeitlich verändert.
.............[Abbildung
12]..............
Schauen
wir uns eine der Folgen dieses Satzes an. Stellen Sie sich vor, ein
Haufen Sterne fällt zu einem Spiralnebel oder einer Galaxie zusammen.
Zunächst sind die Sterne sehr weit draußen und ihre Radien zum
Mittelpunkt sehr lang. Die
[64]
Himmelskörper bewegen
sich nur langsam, wodurch eine kleine Fläche überstrichen wird. Je
näher sie kommen, desto mehr verkürzen sich die Abstände zum Zentrum.
Wenn sie schon sehr weit drinnen sind, sind die Radien auf einen
Bruchteil ihrer ursprünglichen Länge geschrumpft, so daß sich die
Sterne ein ganzes Stück schneller bewegen müssen, um dieselbe Fläche
pro Sekunde zu überstreichen. Je weiter sie hereinkommen, desto rascher
und immer rascher bewegen sie sich, was auch grob die qualitative Form
des Spiralnebels erklärt. Dasselbe Gesetz liegt der Pirouette eines
Schlittschuhläufers zugrunde. Er beginnt langsam mit abgespreiztem Bein
und wird in dem Maße schneller, in dem er sein Bein einzieht. Hatte das
ausgestreckte Bein die pro Sekunde überstrichene Fläche vergrößert, so
muß er die mit dem Einziehen des Beins schrumpfende Fläche durch eine
größere Drehgeschwindigkeit wettmachen. Allerdings habe ich das nicht
für den Schlittschuhläufer bewiesen: Er setzt die Kraft seiner Muskeln
ein; Muskelkraft und Schwerkraft sind zweierlei. Dennoch trifft unser
Gesetz auch auf den Schlittschuhläufer zu.
Das
bringt uns zu
einem Problem, auf das wir in der Physik häufig stoßen, während es die
Mathematik nicht kennt. Hier tauchen nicht an unvermuteten Stellen
Theoreme auf wie in der Physik, wo wir oft von einem Gesetz, wie etwa
dem Gravitationsgesetz, ein Prinzip ableiten können, das über diesen
Bereich hinaus Gültigkeit hat. Mit anderen Worten, postulieren wir in
der Physik das Gesetz der gleichen Flächen aus der Gravitationslehre,
dann können wir daraus die Erhaltung des Drehimpulses ableiten, aber
nur für die Schwerkraft. Nichtsdestoweniger entdecken wir durch
Experimente, daß die Erhaltung des Drehimpulses auch in anderen
Bereichen gilt. Schon Newton standen andere Postulate zur Verfügung,
aus denen er den allgemeineren Erhaltungssatz des Drehimpulses
deduzieren konnte. Doch waren diese Newtonschen Gesetze falsch. Es gibt
keine Kräfte, die Teilchen bewegen sich nicht auf festen Bahnen und so
weiter, das ist alles Mumpitz. Trotzdem stimmt das Analogon, die exakte
Umwandlung dieses
[65]
Gesetzes von den gleichen
Flächen und der Erhaltung des Drehimpulses. Es trifft für die Bewegung
der Atome in der Quantenmechanik zu, die es meines Wissens heute noch
exakt beschreibt. Wir haben also umfassende Prinzipien, die
verschiedene Gesetze umschließen, und können die Beziehungen der
verschiedenen Zweige der Physik untereinander nur verstehen, wenn wir
ihre Ableitung nicht allzu ernst nehmen. Wenn wir uns einbilden, daß
das eine nur gültig ist, weil das andere gültig ist, können wir
einpacken. Eines fernen Tages, wenn wir alle Gesetze kennen und die
Physik abgeschlossen ist, können wir vielleicht von ein paar Axiomen
ausgehen, und zweifelsohne findet sich dann auch jemand, der den Weg
aufzeigt, wie alles aus ihnen abgeleitet werden kann. Solange wir
jedoch die Gesetze nicht alle kennen, können wir einige hernehmen, um
Vermutungen über Theoreme anzustellen, die über den Bereich hinaus, für
den sie bewiesen sind, Gültigkeit besitzen. Wer die Physik verstehen
will, muß sich aufs Abwägen verstehen und in seinem Kopf all die
verschiedenen Lehrsätze und Beziehungen zueinander speichern, weil die
Gesetze oft über den Bereich ihrer Ableitung hinaus gelten. All das
wird erst belanglos, wenn wir sämtliche Gesetze kennen.
Ein
anderer, äußerst interessanter, in der Beziehung zwischen Mathematik
und Physik höchst merkwürdiger Punkt berührt den Umstand, daß man in
der Mathematik, wie sich durch mathematische Argumente aufzeigen läßt,
von vielen anscheinend unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehen und
doch zum gleichen Ergebnis gelangen kann - was auf der Hand liegt, wenn
man anstelle der Axiome auch die Theoreme hernehmen kann. Dagegen sind
die Gesetze der Physik gegenwärtig so zart gebaut, daß ihre
verschiedenen, aber gleichwertigen Aussagen qualitativ einen
vollständig anderen Charakter haben, was sie sehr interessant macht.
Zum Beispiel läßt sich das Gravitationsgesetz auf drei verschiedene
Weisen ausdrücken, die einander zwar durchaus gleichwertig sind, doch
vollständig anders lauten.
[66]
Die erste Möglichkeit
kennen Sie bereits. Sie besagt, daß zwischen Körpern Kräfte wirksam
werden, die sich nach der Gleichung:
..... Formel
......
berechnen
lassen. Jeder Körper, der diese Kraft zu spüren bekommt, beschleunigt
oder verändert seine Bewegung um einen gewissen Betrag pro Sekunde. Das
ist die reguläre Schreibweise des Gesetzes, das ich Newtons Gesetz
nennen will. So ausgedrückt besagt es, daß die Kraft von einem anderen
Körper in endlicher Entfernung abhängt. Sie besitzt, wie wir sagen,
eine nichtlokale Eigenschaft. Die auf ein Objekt wirkende Kraft hängt
davon ab, ob sich in einiger Entfernung ein anderer Körper befindet.
Vielleicht
aber mißfällt Ihnen die Vorstellung einer Fernwirkung. Wie kann ein
Körper hier wissen, was dort drüben vor sich geht? In diesem Fall kann
ich Ihnen eine andere Formulierung anbieten, die höchst seltsam ist und
in den Bereich der sogenannten Feldtheorien fällt. Diese völlig anders
lautende Aussage ist schwer zu erklären; dennoch möchte ich versuchen,
Ihnen eine grobe Vorstellung davon zu vermitteln. Jeder Punkt im Raum
hat eine Zahl (eine Zahl, keinen Mechanismus: Das ist ja die Krux mit
der Physik, daß sie mathematisch sein muß), und diese Zahlen ändern
sich, wenn Sie von Ort zu Ort gehen. Befindet sich an einem Punkt im
Raum ein Körper, so wirkt die Kraft auf ihn in die Richtung, in der
sich die Zahl (oder um ihr ihren richtigen Namen zu geben, das
Potential) am stärksten ändert (die Kraft wirkt also in die Richtung,
in der sich das Potential verändert). Außerdem ist diese Kraft
proportional zur Schnelligkeit, mit der sich das Potential verändert,
wenn Sie sich fortbewegen. Aber das ist erst ein Teil der Aussage, denn
ich muß Ihnen noch erklären, wie man die Art und Weise bestimmt, in der
sich das Potential verändert. Ich könnte sagen, das Potential verändert
sich um-
[67] gekehrt
proportional zur Entfernung von
jedem Körper, das hieße aber zu unserer alten Fernwirkungsvorstellung
zurückzukehren. Sie können das Gesetz dergestalt formulieren, daß Sie
gar nicht wissen müssen, was irgendwo außerhalb einer kleinen Kugel vor
sich geht. Um das Potential im Mittelpunkt dieser Kugel herauszufinden,
genügt es, das Potential auf ihrer Oberfläche - und sei sie noch so
klein - zu kennen. Sie brauchen nicht erst lang draußen herumzusuchen,
Sie berichten mir lediglich, wie groß es in der Nachbarschaft ist und
welche Masse sich innerhalb der Kugel befindet. Die Regel lautet: Das
Potential im Mittelpunkt ist gleich dem Mittelwert des Potentials auf
der Oberfläche der Kugel, abzüglich der uns aus der anderen Gleichung
bereits bekannten Konstanten G, geteilt durch den doppelten Kugelradius
(den wir a nennen wollen), multipliziert mit der in der Kugel
befindlichen Masse, falls die Kugel klein genug ist.
.... Formel ....
(Potential im
Mittelpunkt = Mittelwert des Potentials auf der Kugeloberfläche - G/2a
x Masse innerhalb der Kugel)
Wie
Sie sehen, unterscheiden sich beide Gesetze: Das eine erklärt uns, was
an einem bestimmten Punkt passiert, vermittels dessen, was in der
unmittelbaren Nachbarschaft geschieht, während uns Newtons Gesetz
darüber aufklärt, was zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht, indem es
uns sagt, was zu einem anderen Zeitpunkt geschieht. Mit Newtons Gesetz
können wir das Geschehen von Augenblick zu Augenblick verfolgen,
während es im Raum von Ort zu Ort wechselt. Die zweite Aussage ist auf
einen Zeit- und auf einen Ortspunkt fixiert, da sie nur davon abhängt,
was in der Nachbarschaft passiert. Mathematisch aber sind beide
Aussagen völlig äquivalent.
Nun kann man das
Gravitationsgesetz auf noch eine, gänzlich andere, Art ausdrücken, die
sich in der Anschauung und
[68]
den damit einhergehenden qualitativen Vorstellungen von ihren bei den
Vorgängern unterscheidet. Denjenigen unter Ihnen, die an der
Fernwirkung keinen Gefallen finden, habe ich gezeigt, wie man ohne sie
auskommen kann. Nun möchte ich Ihnen eine Darlegung vorführen, die
philosophisch das genaue Gegenteil darstellt. Hierbei wird kein
Gedanke darauf verschwendet, wie der Körper seinen Weg von Ort zu Ort
bewerkstelligt; die Frage wird in Bausch und Bogen mit einer
Gesamtdarstellung beantwortet. Nehmen wir an, Sie haben eine Reihe von
Teilchen und möchten wissen, wie eins von einer Stelle zu einer
anderen gelangt, so konstruieren Sie eine mögliche Bewegung, die in
einem bestimmten Zeitraum von einem Ort zum anderen führt (Abb. 13).
Sagen wir, das Teilchen möchte in einer Stunde von X nach Y gelangen,
und Sie möchten wissen, welchen Weg es nehmen kann. Also ersinnen Sie
verschiedene Kurven und berechnen für jede eine bestimmte Größe. (Mit
der Art dieser Größe möchte ich Sie nicht weiter behelligen; für jene,
die schon von diesen Begriffen gehört haben, sei gesagt, daß es sich
dabei um den Mittelwert der Differenz zwischen der kinetischen und der
potentiellen Energie handelt.)
.... Abbildung 13
....
Berechnen
Sie die Größe erst für einen Weg und anschließend für einen anderen,
dann erhalten Sie für jede Route verschiedene Zahlen. Unter all den
Wegen aber gibt es einen mit der
[69]
kleinstmöglichen
Zahl, und just diesen schlägt das Teilchen in der Natur ein! Wir
beschreiben jetzt die wirkliche Bewegung, die Ellipse, indem wir etwas
über die ganze Kurve aussagen. Die Vorstellung der Kausalität, also,
daß das Teilchen die Anziehungskraft spürt und ihr nachgibt, ist auf
der Strecke geblieben. Statt dessen wittert es auf irgendeine
großartige Weise sämtliche Kurven und Möglichkeiten und entscheidet sich
für die ihm genehmste (d. h. die mit der kleinsten Größe).
Das
ist nur ein Beispiel für die vielen schönen Möglichkeiten, die Natur
zu beschreiben. Haben Sie es mit jemandem zu tun, der die Kausalität in
der Natur betont, nehmen Sie das Newtonsche Gesetz; will Ihr Partner
die Natur in Begriffen des Prinzips der kleinsten Wirkung ausgedrückt
wissen, verweisen Sie ihn auf den eben besprochenen letzten Weg;
bevorzugt er dagegen ein lokales Feld, so kann er auch das haben. Die
Frage ist nur: Welches Gesetz ist richtig? Sind die verschiedenen
Alternativen mathematisch nicht genau gleichwertig, unterscheiden sie
sich hinsichtlich gewisser Schlußfolgerungen, so brauchen wir nur durch
Experimente herauszufinden, für welchen Weg sich die Natur selbst
entscheidet. Nun kommen manche mit philosophischen Argumenten daher,
warum sie die eine Möglichkeit einer anderen vorziehen würden. Die
Erfahrung aber hat gezeigt, daß die philosophische Intuition angesichts
der Vorgänge in der Natur versagt. Es bleibt nichts anderes übrig, als
sämtliche Möglichkeiten auszuarbeiten und sie der Reihe nach
durchzuprobieren. In unserem Fall indessen sind die Theorien exakt
gleichwertig. Mathematisch haben alle drei Formeln, das Newtonsche
Gesetz, die lokale Feldtheorie und das Hamiltonsche Prinzip, genau die
gleichen Folgen. Was sollen wir nun machen? Alle Bücher behaupten, daß
wir wissenschaftlich keiner den Vorzug geben können. Und das stimmt.
Sie sind wissenschaftlich gleichwertig. Es ist unmöglich, eine Wahl zu
treffen, da es keinen experimentellen Weg gibt, zwischen Möglichkeiten
zu unterscheiden, die alle dieselben Folgen haben. Psychologisch
unterscheiden sie sich allerdings in zweifacher Hinsicht. Er-
[70]
stens, indem Sie sie philosophisch bejahen oder ablehnen, und gegen
diese Krankheit gibt es nur ein Heilmittel: Ausbildung. Zweitens
psychologisch, weil sie sich als völlig unterschiedlich erweisen,
sobald Sie versuchen, von ihnen auf neue Gesetze zu schließen.
So
lange aber die Physik nicht abgeschlossen ist und wir versuchen,
weitere Gesetze zu begreifen, so lange können uns die verschiedenen
möglichen Formulierungen einen Hinweis auf das geben, was unter anderen
Umständen geschehen könnte, uns also Vermutungen nahelegen, wie die
Gesetze in einer weniger eingeschränkten Situation aussehen könnten. So
betrachtet sind die verschiedenen Möglichkeiten zumindest psychologisch
nicht äquivalent. Schauen wir uns ein Beispiel an. Einstein hatte
erkannt, daß sich elektrische Signale nicht schneller als mit
Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können und vermutete ein allgemeines
Prinzip. (Er spielte dasselbe Ratespiel wie wir, als wir den
Drehimpuls-Erhaltungssatz von dem von uns bewiesenen Sonderfall auf die
restlichen Phänomene des Universums ausdehnten.) Er nahm an, daß seine
Entdeckung für alle Erscheinungen zutreffe, auch für die Gravitation.
Wenn sich Signale nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen
können, erweist sich die Methode, die Kräfte von Augenblick zu
Augenblick zu beschreiben, als recht untauglich. So nimmt sich Newtons
Methode in Einsteins Verallgemeinerung der Gravitation hoffnungslos
inadäquat und enorm kompliziert aus, während sich die Feldmethode
ebenso wie das Minimalprinzip einfach und einleuchtend einpassen.
Zwischen den beiden letztgenannten haben wir uns noch nicht
entschieden.
In der Tat zeigt sich, daß in der
Quantenmechanik
beide in der von mir angegebenen Formulierung nicht genau zutreffen.
Die Tatsache aber, daß es überhaupt ein Minimalprinzip gibt, erweist
sich als eine Folge der Tatsache, daß kleine Teilchen der
Quantenmechanik gehorchen. Das beste Gesetz nach gegenwärtigem
Verständnis ist eine Kombination von Minimalprinzipien und lokalen
Gesetzen. Wie wir derzeit meinen,
[71]
müssen die Gesetze
der Physik ihrem Wesen nach lokal sein und das Prinzip der kleinsten
Wirkung berücksichtigen, aber mit Gewißheit wissen wir das nicht. Fällt
in einem auf wackligen Prämissen errichteten Gedankengebäude ein Teil
als falsch aus, bedarf es nur geringfügiger Änderung, wenn man es auf
die richtigen Axiome aufgebaut hat, von denen womöglich nur eines
zusammenbricht, während die übrigen bleiben können. Genausogut aber
kann, haben Sie eine andere Reihe von Axiomen ausgewählt, Ihr ganzes
Gebäude einstürzen, weil sich alles just auf das eine, falsche,
stützten. Im voraus läßt sich gar nichts sagen. Wir wissen nicht,
welche Formulierung uns weiterhelfen wird. Wir sind auf unsere
Intuition angewiesen. Vor allem aber müssen wir stets sämtliche
Alternativen im Kopf haben. Deshalb betreiben Physiker babylonische
Mathematik und schenken dem logischen Schlußfolgern aus vorgegebenen
Axiomen nur wenig Beachtung.
Diese Vielfalt der
Interpretationsmöglichkeiten gehört zu den erstaunlichen Eigenschaften
der Natur. Voraussetzung dafür ist, wie sich zeigt, eben dieses ganz
spezielle, delikate Wesen der physikalischen Gesetze. Zum Beispiel kann
das Gravitationsgesetz nur deshalb lokal ausgedrückt werden, weil die
Kraft umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands ist; stünde
anstelle des Quadrats die dritte Potenz des Abstands, wäre es nicht auf
diese Weise möglich. Am anderen Ende der Gleichung ermöglicht die
Tatsache, daß die Kraft in Beziehung zur Änderungsrate der
Geschwindigkeit steht, das Gesetz mit Hilfe des Prinzips von der
kleinsten Wirkung zu formulieren. Wäre die Kraft statt dessen
beispielsweise proportional zur Änderungsrate der Position, ließe sich
das Gesetz nicht so formulieren. Wenn Sie die Gesetze stark
modifizieren, schränken Sie, wie Sie feststellen werden, die
Möglichkeiten der Formulierung ein. Warum sich korrekte physikalische
Gesetze auf so vielfältige und unterschiedliche Weise ausdrücken
lassen, ist mir bis heute ein Geheimnis geblieben. Ich bin noch immer
nicht dahintergekommen, wie sie es schaffen, verschiedene Tore
anscheinend gleichzeitig zu passieren.
[72]
Nun ein paar
allgemeinere Worte zur Beziehung zwischen Mathematik und Physik. Die
Mathematiker befassen sich nur mit der Struktur der Schlußfolgerungen;
worüber sie reden, kümmert sie im Grunde wenig. Mehr noch, sie brauchen
auch gar nicht zu wissen, wovon sie reden oder, wie sie sich selber
ausdrücken, ob ihre Aussagen wahr sind. Lassen Sie mich Ihnen das
erklären. Sie stellen die Axiome auf, das und das ist so und dies und
jenes so. Was geschieht nun? Der logische Weg ist vorgezeichnet, egal
ob Sie wissen, was die Worte das und das bedeuten oder nicht.
Voraussetzung ist nur, daß die Aussagen über die Axiome sorgfältig
formuliert und vollständig genug sind, damit der Mann, der die Schlüsse
daraus zieht, ohne die Bedeutung der Wörter zu kennen, neue Schlüsse in
derselben Sprache ziehen kann. Kommt in einem der Axiome das Wort
Dreieck vor, wird sich auch in der Schlußfolgerung eine Aussage über
Dreiecke finden, ohne daß der Mann, der die Schlüsse gezogen hat, eine
Ahnung zu haben braucht, was ein Dreieck ist. Ich aber kann seine
Schlußfolgerung von hinten lesen und sagen: »Ein Dreieck ist ein
dreiseitiges Gebilde mit den und den Eigenschaften«, und schon weiß ich
die von ihm entdeckten neuen Fakten. Mit anderen Worten, Mathematiker
bereiten abstrakte Schlußfolgerungen vor, deren man sich bloß zu
bedienen braucht, wenn man eine Reihe von Axiomen über die reale Welt
aufstellt. Der Physiker dagegen verbindet mit all seinen Sätzen eine
Bedeutung - ein äußerst wichtiger Umstand, den Physiker, die von der
Mathematik her kommen, oft nicht richtig einschätzen. Physik ist nicht
Mathematik, und Mathematik ist nicht Physik. Eine hilft der anderen.
Aber in der Physik müssen Sie den Zusammenhang zwischen Wörtern und
wirklicher Welt begreifen. Unter dem Strich müssen Sie das, was Sie
herausgefunden haben, ins Deutsche übersetzen, in die Welt, in die
Kupfer- und Glasblöcke, mit denen Sie Ihre Experimente durchführen. Nur
so können Sie feststellen, ob Ihre Schlußfolgerungen zutreffen - ein
Problem, das die Mathematik nicht kennt.
[73]
Ohne Zweifel
sind die von den Mathematikern erarbeiteten Schlußfolgerungen sehr
effektiv und für die Physiker äußerst nützlich. Umgekehrt greifen auch
die Mathematiker manchmal auf die von den Physikern entwickelte
Argumentation zurück.
Ziel der Mathematiker ist,
ihre Schlüsse
so allgemein wie möglich zu halten. Sage ich zu ihnen: »Ich möchte über
den ganz gewöhnlichen dreidimensionalen Raum reden«, erwidern sie:
»Bitte sehr, hier haben wir die Theoreme über einen Raum von n
Dimensionen.« »Aber«, wende ich ein, »ich brauche doch nur den Fall 3.«
»Nun«, entgegnen sie, »dann setzen Sie eben n = 3.«! So zeigt sich, daß
viele ihrer komplizierten Theoreme wesentlich einfacher werden, sobald
sie auf einen speziellen Fall angewendet werden. Der Physiker ist stets
am speziellen Fall interessiert; der Allgemeinfall läßt ihn kalt. Er
redet ganz konkret über eine Sache und nicht abstrakt über alles
mögliche. Er möchte über das Gravitationsgesetz in drei Dimensionen
reden, nicht über eine x-beliebige Kraft im Falle von n Dimensionen.
Also muß er die Lösungen bis zu einem gewissen Grad reduzieren, die vom
Mathematiker ja für einen weiteren Problembereich ausgelegt worden sind
was sich im Endeffekt als sehr nützlich erweist, denn über kurz oder
lang kommt der arme Physiker doch stets angekrochen: »Verzeihen Sie,
daß ich damals nichts von Ihren vier Dimensionen wissen wollte ... «
Wenn
Sie wissen, wovon Sie reden, nämlich daß die einen Symbole Kräfte, die
anderen Massen, die Trägheit und so weiter darstellen, können Sie mit
einer Portion gesundem Menschenverstand und dem Gefühl, sich in der
Welt auszukennen, ziemlich weit kommen. Sie haben schon eine Menge
gesehen und wissen mehr oder weniger, wie die Sache laufen wird. Der
arme Mathematiker dagegen übersetzt alles in Gleichungen, und da die
Symbole für ihn nicht mit einer bestimmten Bedeutung verknüpft sind,
hat er keine Richtschnur außer dem Rigorismus der Mathematik und einer
sorgfältigen Argumentation. Der Physiker hinwiederum, der mehr oder
weniger
[74] weiß, was als
Antwort herauskommt, kann
teilweise ein bißchen über den Daumen peilen und so ziemlich schnell
vorankommen. Mathematischer Rigorismus von großer Präzision ist in der
Physik nicht unbedingt empfehlenswert. Dennoch sollte man den
Mathematiker deshalb nicht kritisieren. Schließlich hat er keine
Veranlassung, das zu tun, was für den Physiker nützlich wäre. Jeder
geht seinen eigenen Geschäften nach. Wenn der Physiker eine Extrawurst
will, muß er sie sich eben selber braten.
Als
nächstes erhebt
sich die Frage, ob wir bei dem Versuch, ein neues Gesetz zu erraten,
etwas auf unser Gefühl, uns in der Welt auszukennen, und auf
philosophische Vorlieben, wie »Das Hamiltonsche Prinzip gefällt mir
nicht« oder »Das Minimalprinzip sagt mir zu«, »Mit der Fernwirkung kann
ich nicht viel anfangen« oder »Die Fernwirkung liegt mir«, geben
sollen. Anders gefragt, wie hilfreich sind Modelle? Es ist interessant,
daß sie sich sehr oft als hilfreich erweisen, und die meisten
Physikprofessoren sind bemüht, ihren Studenten beizubringen, wie man
sich ihrer bedienen und Fingerspitzengefühl für physikalische Vorgänge
entwickeln kann. Immer wieder stellt sich jedoch heraus, daß sich die
großen Entdeckungen samt und sonders von ihnen entfernen und viel
abstraktere Formen annehmen, kurzum daß Modelle für die wirklich großen
Würfe nicht taugen. Maxwells Entdeckung der Elektrodynamik arbeitete
zunächst mit allerlei Rädern und Zwischenrädern im Raum und
funktionierte erst so richtig, nachdem sie von dem ganzen Brimborium
befreit war. Dirac* erriet die korrekten Gesetze der relativistischen
Quantenmechanik im wahrsten Sinne des Wortes. Er stellte eine Gleichung
auf und hatte damit das Gesetz entdeckt - allem Anschein nach eine
recht effektive Methode, die einmal mehr beweist, wie gut sich die
Mathematik eignet, die Tiefen der Natur auszuloten. Dagegen können alle
Versuche, sie durch philosophische Prin- *
Paul Dirac, 1902-1984, britischer Physiker, erhielt 1933 zusammen mit
Schrödinger den Nobelpreis.
[75]
zipien zu erfassen oder durch die Einbildung, sich auszukennen,
einpacken.
Ich
kann mich nicht damit abfinden, daß wir mit unseren heutigen Gesetzen
einen Computer brauchen, um durch eine Unzahl logischer Operationen
herauszubringen, was in einem winzigen Raum in einer winzigen
Zeitspanne vor sich geht. Wie ist es möglich, daß all das in diesem
winzigen Zeitraum geschieht? Warum sollte ein unendlicher Aufwand an
Logik erforderlich sein, um die Vorgänge in einem einzigen winzigen
Stückchen Raum/Zeit herausfinden? Deshalb hänge ich irgendwie an der
Hypothese, daß die Physik letztendlich der Mathematik nicht bedarf, daß
zu guter Letzt die Maschinerie ans Licht kommen wird und die Gesetze
sich als so einfach erweisen wie die Regeln des vordergründig scheinbar
komplexen Schachspiels. Aber diese Spekulation ist keinen Deut besser
als das »Mag ich« und »Mag ich nicht« der andern; man sollte sich darum
hüten, in diesen Dingen allzu voreingenommen zu sein. Zusammenfassend
möchte ich Jeans zitieren: »Der Große Baumeister scheint ein
Mathematiker zu sein.« Jedenfalls fällt es schwer, die Schönheit der
Natur in ihrem ganzen Umfang zu erfassen ohne mathematische Kenntnisse.
C. P. Snow sprach von zwei Kulturen. Meiner Ansicht nach verläuft die
Trennungslinie zwischen denen, die dank dem Verständnis der Mathematik
die Schönheit der Natur erfahren haben und jenen, denen dieses Erlebnis
versagt bleibt.
Ein Jammer, daß es ausgerechnet
Mathematik
sein muß, und daß Mathematik manchen Leuten so schwerfällt. Euklid soll
einem König, der bei ihm die Geometrie zu erlernen suchte und sich
beklagte, daß es so schwierig sei, geantwortet haben: »Zur Geometrie
gibt es nun einmal keinen Königsweg.« Es gibt in der Tat keinen
Königsweg. Die Physik läßt sich in keine andere Sprache übersetzen.
Wenn Sie etwas über die Natur erfahren, sich ein Bild von ihr machen
wollen, müssen Sie sich der Sprache bedienen, die sie spricht. Sie gibt
ihr Geheimnis nur in einer Form preis, und wir sind nicht so ver-
[76]
messen, sie aufzufordern, sich zu ändern, ehe wir ihr überhaupt unsere
Aufmerksamkeit zuwenden.
Wie
Sie tauben Ohren die Erfahrung des Musikgenusses selbst nicht mit
Engelszungen zu vermitteln vermögen, läßt sich auch das wahre
Verständnis der Natur den Jüngern »der anderen Kultur« durch kein
Argument der Welt erschließen. Philosophen versuchen, Sie qualitativ
über die Natur aufzuklären. Ich versuche sie zu beschreiben. Aber es
kommt nicht rüber, ganz einfach, weil es unmöglich ist. Vielleicht ist
dieser beschränkte Horizont der Grund dafür, warum manche Leute
imstande sind, sich steif und fest einzubilden, daß der Mensch der
Mittelpunkt des Universums sei.
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